Am „Nakba-Tag“ 2016 im Jerusalemer Flüchtlingscamp: Shu`fat

Als ich 2012 zum ersten Mal für längere Zeit in Palästina war, habe ich den Begriff „die Nakba“ zum ersten Mal gehört. Er meint übersetzt, die „Katastrophe“ und erinnert an jedem 15 Mai an Flucht und Vertreibung von mehr als 700.000 Araber während der israelischen Unabhängigkeitskrieg 1947-1949.

das aktuelle Aktionsplakat 2016
das aktuelle
Aktionsplakat 2016

Der Tag des 14. Mai 1948 sah den Abzug der letzten britischen Truppen aus Palästina und gleichzeitig die Gründung des Staates Israel. In den Monaten vor und nach diesem Tag (Dezember 1947 bis Dezember 1948) wurden vom israelischen Militär rund 750,000 – 800,000 Palästinenser aus ihrer angestammten Heimat in die Nachbarländer vertrieben und zu Flüchtlingen gemacht. Sie haben ihr Land nicht freiwillig verlassen, wie es die israelische Regierungspropaganda der Welt jahrelang vortäuschte. Sie wurden zu einem großen Teil gezwungen – durch Einschüchterung, Drohungen, Terror, Vergewaltigungen, Tötungen, Massaker (u.a. Deir Yassin, Dawazmeh, Tantura) – Hals über Kopf zu fliehen: Aus 531 Dörfern und 11 Städten, unter Zurücklassung ihres gesamten Hab und Gut: 296,000 ha Landes mit Feldern, Olivenhainen und Zitrusplantagen, 73,000 Wohnräumen, 7,800 Läden und Werkstätten, ihres Bestands an Vieh und Landwirtschaftsgeräten, ihrer gesamten Bankguthaben im Werte bis zu 5 Millionen palästinensischen Pfunds. Mehr als palästinensische 500 Dörfer wurden in Israel anschließend zerstört.

Während die Israelis am vergangenen Donnerstag ihren Unabhängigkeitstag (Independence Day“ ) gefeiert haben, begehen die Palästinenser am heutigen 15. Mai nun schon zum 68. Mal den Tag an dem der Katastrophe, der „Nakba“, an ihre Vertreibung gedacht.

 

Aus nachvollziehbaren Gründen habe mich heute in das Jerusalemer „Flüchtlingslager“ Shuh`fat begeben.

das Camp liegt hinter einer 8 m hohen Mauer Jerusalem ist geteilt, wie einst Berlin
das Camp liegt hinter einer 8 m hohen Mauer
Jerusalem ist geteilt, wie einst Berlin

Shu’fat ist kein Camp oder Lager wie man es sich vorstellt. Es ist ein Ort der über die Jahre zur Stadt gewachsen ist. Das Camp wurde 1965 etabliert und ist für ca. 3’000 Menschen gebaut worden. Heute hat Shu’fat ca. 40’000 Einwohner, davon sind 12’500 offiziell als Flüchtlinge registriert, Schätzungen gehen jedoch bis auf 20’000. Tatsächlich wohnen tausende Menschen nicht als Flüchtlinge in diesem Ort, sondern sind „freiwillig“ dorthin gezogen, es ist schlicht der einzige Ort in Jerusalem den sich die Leute noch leisten können.

 

Shu`fat "erstickt" im Müll
Shu`fat „erstickt“ im Müll

Der Stadtteil ist dementsprechend überbevölkert und sprengt die ganze Infrastruktur. Durch die stetige Migration und durch den Familienzuwachs wurden viele neue Häuser gebaut oder vergrössert. Da es für die Palästinenser fast unmöglich ist eine Baubewilligung zu bekommen wurde einfach gebaut, daher haben viele Wohnblöcke und Wohneinheiten einen Abrissbefehl da diese als illegal deklariert wurden. Für solche die sich für den legalen Weg entscheiden wird es eine reine Vermögensfrage, denn die meisten Familien können sich keine Baubewilligung leisten. Allein die Beantragung einer Bewilligung kostet etwa 50’000 Dollar, wird der Antrag zurückgewiesen, ist das Geld verloren.  (aus westbank-blog, hier könnt ihr auch weitere Fotos ansehen)

Das Camp erreicht man mit der Palästinensischen Buslinie 207 vom Damaskustor. Das

in direkter Nachbarschaft: jüdische Siedlung
in direkter Nachbarschaft (hinter der Mauer):
jüdische Siedlung

Lager (der Stadtteil) wirkt auf mich total schmutzig, wie ihr in dem von mir verlinkten Westbank-Blog lesen könnt, gibt es hier weder Müllabfuhr, keine Straßenreinigung, keine Polizei. Insgesamt macht das „Lager“ auf mich den Eindruck als seien die Bewohner von jeder staatlichen Ordnung verlassenen auf sich allein gestellt. Natürlich gibt es dort auch die Gebäude der UNWRA der UN-Behörde für die Palästinensischen Flüchtlinge. Die Personen die einem begegnen wirken – im Gegensatz zu den Menschen beispielsweise in Bethlehem oder

Karikatur im Flüchtlingslager in Betlehem (Dheishe)
Karikatur im Flüchtlingslager in Betlehem (Dheishe)

Ramallah – abweisend, oft aggressiv. Besonders Kinder sind mir gegenüber oft distanzlos, ja sie betteln und reagieren gereizt, aggressiv, wenn ich ihre Wünsche nach Schekel nicht erfülle. Ich sah einen Mopedfahrer, der mit „irrer Geschwindigkeit durch die schmale Straße fuhr, dabei ein junges Mädchen anfuhr, kurz hielt…und dann weiter fuhr. Ich versuchte das Mädchen zu fragen ob sie sich verletzt habe, sie aber ging, humpelt, und weinet weiter. Alles in allem eine schreckliche Situation in diesem Camp. Alle wissen, dass gerade die Flüchtlingslägern oft die „Geburtsstätten“ von Hass und Gewalt sind. Bei allem Respekt vor den Menschen und Organisationen die sich hier um die Menschen bemühen, es müsste jedoch viel, viel mehr geschehen.

Der Schlüssel" als Erinnerung an den Wunsch der Rückkehr gesehen in Abu Dis
Der Schlüssel“ als Erinnerung an den Wunsch der Rückkehr gesehen in Abu Dis

Nachtrag zum Nakba-Tag:
Seit 2012 verbietet, im Übrigen, ein israelisches Gesetz in Israel offizielle Zeremonien zum Gedenken an das palästinensische Flüchtlingsproblem. Wer trotzdem den Nakba-Tag begeht, riskiert die Streichung von staatlichen Förderungsgeldern. Die umstrittene Rechtsprechung hatte einen kontraproduktiven Effekt. Es gibt heute nicht weniger Nakba-Veranstaltungen, sondern mehr.

Über Marius S. 405 Artikel
Seit dem Frühjahr 2012 habe ich die Möglichkeit, mir durch längere Aufenthalte im Westjordanland/Palästina, ein eigenes Bild von der aktuellen Situation im israelisch/palästinensischen Konflikt zu machen. Ich habe in dieser Zeit unter anderem aktiv im international bekannten Friedensprojekt "Tent of Nations" in der Nähe von Bethlehem (2012) und in einem Heim für alte und behinderte Frauen in der Nähe von Ramallah (2013) gearbeitet. Darüber hinaus habe ich seit dem verschiedene Gruppen bei Begegnungsreisen in Israel, Palästina und im Herbst 2015 auch in Jordanien begleitet. In vielen Kontakten mit palästinensischen und israelischen Menschen hatte ich die Möglichkeit, deren Gefühle und Einschätzungen zum Leben und zum Konflikt zu erfahren. Durch diese Erlebnisse und Erfahrungen vor Ort bin ich motiviert worden, mich auch hier in Deutschland für eine Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinenser einzusetzen. Vor diesem Hintergrund habe ich Kontakt mit der Nahost-Kommission von pax christi aufgenommen und bin seit 2013 dort Mitglied.

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