Kafka im Westjordanland
von Joseph Dana (Auszüge aus Le Monde, deutsche Ausgabe 10 02.2012
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2012/02/10.mondeText.artikel,a0003.idx,1
Der Süden des Westjordanlands, jenseits der alten Stadt Hebron – wo sich nach muslimischer und christlicher Überlieferung die Grabstätten der alttestamentarischen „Erzväter“ Abraham, Isaak und Jakob befinden -, ist eine sanfte Hügellandschaft, die allmählich in die Wüste Negev ausläuft.
Die Mehrheit der Palästinenser dieser Gegend haben ihre familiären Wurzeln in Dörfern, die heute im Staat Israel liegen. Früher pflegten sie eine halbnomadische Lebensweise und zogen sich nur während der heißen Sommer aus der Wüste Negev in das Hügelland südlich von Hebron zurück.
Erst nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 und der Vertreibung der palästinensischen Bewohner vom Territorium des neuen Staats wurden ihre Sommerrefugien in den „South Hebron Hills“ notgedrungen zu permanenten Wohnstätten. Die bestehen aus improvisierten Zeltlagern oder natürlichen Berghöhlen, deren Bewohner, den Naturgewalten unmittelbar ausgesetzt, ein karges und hartes Leben fristen.
Das Palästinenserdorf Susiya liegt auf einem Hügelrücken
zwischen der modernen israelischen Siedlung, die ebenfalls Susiya heißt, und der Ruine einer Synagoge aus römischer Zeit. Dorf ist vielleicht nicht das richtige Wort: Susiya ist nicht viel mehr als eine Ansammlung provisorischer Zelte, zwischen denen Kinder umherrennen und mit den Schafen spielen, die in der steinigen Umgebung wenig Essbares finden. Die Plastikzelte scheinen kaum geeignet, ihre Bewohner vor den starken Winden zu schützen, die im Winter über die Wüste fegen. In diesem kargen Landstrich führen die Bewohner von Susiya ihr traditionelles Leben weiter: Sie leben von dem, was die Schafhaltung abwirft, und fangen den Winterregen in großen natürlichen Zisternen auf.
Es ist keine Idylle. Die Gefahr, aus Susiya für immer vertrieben zu werden, hat seit 25 Jahren ständig zugenommen. Die erste große Räumung des Dorfs durch israelisches Militär fand 1986 statt, nachdem israelische Siedler begonnen hatten, den Nord-Süd-Korridor östlich der Stadt Yatta zu besiedeln (siehe Karte). Damit wollten sie dieses wichtige urbane Zentrum im Süden Palästinas durch israelische Siedlungen einkreisen. Das Konzept war Teil des umstrittenen Allon-Plans, der nach dem Krieg von 1967 vom damaligen Verteidigungsminister Yigal Allon erarbeitet wurde und auf die Kontrolle des gesamten Westjordanlands zielte.(5) Die Bewohner von Susiya kehrten bald zurück und bauten ihr Dorf wieder auf. Seitdem wurden sie aber so oft immer wieder vertrieben, dass sie sich am Ende mit den tristen Zelten begnügten, die ihnen das Internationale Rote Kreuz zur Verfügung stellte.
Der ständige Wechsel von Vertreibung und Heimkehr hält bis heute an. 2001 wurde Susiya erneut von den israelischen Sicherheitskräften geräumt, nachdem ein Bewohner der benachbarten jüdischen Siedlung von Palästinensern ermordet worden war. Die größte Bedrohung blieb jedoch die offizielle Politik der israelischen Zivilbehörde.
Da diese nicht eine einzige Baulizenz bewilligt hat, gelten alle Behausungen in Susiya als illegal und können jederzeit dem Erdboden gleichgemacht werden. Die Palästinenser von Susiya leben also illegal in ihrem eigenen Dorf.
Seit 2004 ist der Ort nach und nach zum politischem Organisationszentrum für die Palästinenser der Region südlich von Hebron geworden – aber auch zum Brennpunkt der gemeinsamen israelisch-palästinensischen Widerstandsbewegung. Die Aktivisten von Ta’ayush haben enge Bindungen nach Susiya geknüpft und benutzen das Dorf häufig als Hauptquartier für ihre Aktionen in den Hügeln des südlichen Westjordanlands.
Die Palästinenser in Zone C müssen sich nicht nur mit der Armee und der Zivilbehörde herumschlagen, sondern auch mit den israelischen Siedlern, deren Übergriffe seit der Zweiten Intifada (2000-2005) immer aggressiver geworden sind. Mittlerweile wurden tausende palästinensischer Olivenbäumen von Siedlern abgebrannt oder abgeholzt, mehrfach wurden auch Ställe angezündet, in denen ganze Schafherden umkamen. Vertreter der Siedler behaupten oft, die Palästinenser hätten mit den Provokationen begonnen. Das ist in manchen Fällen zweifellos richtig, aber das Ausmaß und die Art der Gewalt, die von den Siedlern ausgeht, lässt diese Rechtfertigungsversuche allzu fadenscheinig erscheinen.
Der Wilde Westen südlich von Hebron
„Sie versuchen uns auf unserem eigenen Land auszuhungern“, sagt Mahmud Zahawre. Sein Blick ist starr geradeaus auf die Landstraße Nr. 60 gerichtet, die Jerusalem mit Hebron und dem südlichen Westjordanland verbindet. „Das Militär und die Siedler arbeiten zusammen. Sie sind ein perfektes Team, und ein erfolgreiches dazu.“ Zahawre ist Gemeindeverwalter in Mas’ara, einem Dorf in der Nähe von Bethlehem.
Seiner Meinung nach ist für die allmählichen Bevölkerungsverschiebungen im südlichen Westjordanland nicht nur die Politik der Zivilbehörde verantwortlich, sondern auch das gewalttätige Verhalten der Siedler.
Die Zusammenarbeit zwischen den Siedlern und der israelischen Armee wird zum Beispiel am Siedlungsaußenposten Asaël deutlich, der südöstlich der israelischen Siedlung Schima liegt. Obwohl Asaël auch vom israelischen Staat nicht als „legale“ Siedlung anerkannt wird, steht der Außenposten unter dem vollen Schutz der Armee, die gewaltsame Übergriffe gegen die Palästinenser häufig ignoriert.
So kommt es häufig vor, dass palästinensische Schafhirten, die auf das Weideland um Asaël angewiesen sind, mit Steinwürfen von den Siedlern vertrieben werden. Selbst innerhalb der Grenzen ihres eigenen rechtmäßigen Grundbesitzes können Palästinenser ihre Felder kaum bestellen oder ernten, wenn sie dabei nicht durch die Anwesenheit der Aktivisten von Ta’ayush oder anderer Gruppen beschützt werden.
Kompliziert wird die Situation der Palästinenser noch dadurch, dass sie in der gesamten Zone C der israelischen Militärgerichtsbarkeit unterworfen sind – bei einem Diebstahl wie bei Verstößen gegen die Sicherheitsvorschriften.
Die Siedler dagegen unterstehen als israelische Staatsbürger der israelischen Zivilgerichtsbarkeit, obwohl sie sich jenseits von offiziell anerkannten Grenzen Israels aufhalten.
Im Klartext bedeutet dies, dass palästinensischen Bauern beim Bestellen ihres Landes die Festnahme durch israelische Besatzungssoldaten und ein langwieriger Prozess vor einem Militärgericht droht. Dagegen haben sich Siedler, die gewaltsam gegen Palästinenser vorgehen, vor einer anderen, nachsichtigeren Rechtsinstanz zu verantworten.
Um Auseinandersetzungen zwischen palästinensischen Bauern und Siedlern zu verhindern, greift das Militär in den meisten Fällen auf ein Mittel zurück, das 1945 durch eine Notstandsverordnung der damaligen britischen Mandatsmacht eingeführt wurde. Danach können bestimmte Gebiete zur „geschlossenen militärischen Zone“ erklärt werden, die Zivilisten nur mit der ausdrücklichen Erlaubnis des zuständigen Befehlshabers betreten dürfen. Die israelische Armee benutzt diese Verordnung immer wieder dazu, Palästinenser von ihrem eigenen Land zu vertreiben oder ihnen den Zugang zu Ressourcen wie Wasserquellen zu versperren, während für die Siedler kein entsprechendes Zutrittsverbot gilt.
Die Aktivisten von Ta’ayush haben in mehreren Fällen vor dem Obersten Gericht in Jerusalem gegen die unfaire, weil einseitige Praxis solcher geschlossenen Militärzonen im südlichen Westjordanland geklagt – mit mäßigem Erfolg. Das Hohe Gericht hat die Militärverwaltung zwar wiederholt für die „politisch motivierte“ Einrichtung solcher Militärzonen gerügt, weil dies den Palästinensern das Überleben in den betroffenen Gebieten praktisch unmöglich mache. Doch die Armee hat die Anweisungen des Gerichts weitgehend missachtet. Konkrete Veränderungen dieser Praxis sind vor Ort jedenfalls kaum zu erkennen.
Trotz der Tatsache, dass es beinahe jede Woche zu Auseinandersetzungen zwischen linken Aktivisten und dem Militär kommt, konnten in den letzten Jahren alle israelischen Regierungen jeglicher politischer Couleur ihre kolonialistische Politik des „teile und herrsche“ im südlichen Westjordanland vergleichsweise ungestört weiterbetreiben. Diese Politik beruht auf der Idee, dass die palästinensische Bevölkerung in kleinen urbanen Räumen besser kontrolliert werden kann, und erinnert insofern stark an die französische Herrschaft in Algerien oder an die britische Kolonialpolitik in Indien.
Yatta, eine der größeren palästinensischen Städte im Hügelland südlich von Hebron, untersteht vollständig der palästinensischen Autonomiebehörde. Doch die Stadt ist von einer Reihe israelischer Siedlungen umzingelt. Und die Landstraßen, die Yatta mit den umliegenden palästinensischen Dörfern verbinden, werden in unregelmäßigen Abständen vom israelischen Militär gesperrt. Wann immer dies geschieht, sind die Palästinenser aus den Dörfern von Yatta und damit von ihrem Einkaufszentrum abgeschnitten.
Jede Genehmigung, die die Zivilbehörde für den Bau von Häusern oder Wasser- und Stromleitungen verweigert, erhöht die Abhängigkeit der Dörfer von Yatta. Damit wächst der Druck, in die Stadt zu ziehen. Doch wenn sie nach Yatta ziehen, geben sie faktisch ihr Land auf. Denn die Behörden können es alsbald zu „verlassenem Besitz“ erklären und einkassieren – aufgrund der osmanischen Gesetze über Grundeigentum, nach denen das Eigentumsrecht an eine beinahe permanente Anwesenheit auf dem Land gebunden ist.
Diese Politik hat gerade für Yatta schwerwiegende Auswirkungen, weil die unaufhörlich wachsende Bevölkerung der Stadt die Wasserversorgung und andere Dienstleistungen der Gemeinde bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit strapaziert.
Im Gemeindezelt im Zentrum des palästinensischen Susiya berichtet Nasser Nawaja in fließendem Hebräisch von den Problemen, mit denen seine Gemeinde seit Jahren zu kämpfen hat: „Lange standen wir der Gewalt der Siedler völlig hilflos gegenüber, aber inzwischen haben wir unsere israelischen und internationalen Partner, die uns bei der Bewachung und beim Schutz unseres Dorfs entscheidend helfen.“
In den letzten fünf Jahre haben Nawaja und andere Palästinenser aus Susiya enge Beziehungen zu israelischen Menschenrechtsorganisationen wie B’tselem und Breaking the Silence entwickelt. Dank der Unterstützung von B’tselem verteilt Nawaja heute überall im südlichen Westjordanland Videokameras, damit die Bewohner palästinensischer Dörfer die gewalttätigen Übergriffe durch die Siedler und die Armee dokumentieren können.
Nawaja kritisiert die israelischen Siedler, die sein Dorf terrorisieren, solange er denken kann, in aller Schärfe; mit der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah hat er dagegen eher Mitleid: „Denen sind die Hände gebunden. Wir sind ja der israelischen Zivilbehörde unterstellt, deshalb können sie uns in Sachen Wasser, Strom oder gegen die Siedler nicht wirklich helfen. Wahrscheinlich haben sie uns da oben in Ramallah ohnehin längst vergessen.“
Nicht vergessen werden sie von den zivilgesellschaftlichen Gruppen aus Israel und Palästina, die mit ihren kreativen Aktionen erreichen wollen, dass die Palästinenser ihr Land behalten und nutzen können. Eine Gruppe von Palästinensern und Israelis bemüht sich, alternative Energieprojekte in den Hügeln südlich von Hebron voranzutreiben: Die Organisation Comet-ME (Community, Energy and Technology in the Middle East) errichtet und unterhält mit finanzieller Unterstützung der EU und privater Geldgeber im südlichen Westjordanland mehrere Solarstromanlagen und Windkrafträder. Dieses zugleich ökologische und politische Projekt ermöglicht es den Palästinensern, trotz der Schikanen bei der Stromversorgung auf ihrem Land zu bleiben.
Das palästinensische Dorf Umm al-Kheir liegt auf der Kuppe eines Hügels östlich der Siedlung Karmel. Der Ausblick von hier ist atemberaubend. Hinter dem Toten Meer, dem tiefsten Punkt der Erde, schimmern am Horizont die Bergketten Transjordaniens. Das kleine Dorf, in dem hauptsächlich verarmte Beduinen leben, besteht aus einer Ansammlung provisorischer Behausungen, so wie die meisten Siedlungen in dieser südwestlichen Ecke des Westjordanlands. Bei einem Glas süßen Tee erzählt man uns, dass die israelischen Behörden selbst kleinste Bauprojekte wie die Errichtung einer Latrine zum Anlass nehmen könnten, das gesamte Lager zu zerstören. „Sie wollen uns das Leben so schwer machen wie möglich“, meint ein Beduine, „sie nehmen uns selbst das Lebensnotwendigste wie Wasser und Toiletten weg, aber bis jetzt haben wir uns hier gehalten. Wir haben ja keine andere Wahl.“
In dem Dorf, das nur auf einer schlaglochübersäten und gefährlichen Straße zu erreichen ist, leben knapp hundert Menschen. Alle von den Dorfbewohnern gestellten Bauanträge werden regelmäßig zurückgewiesen, so dass sie weiterhin in behelfsmäßigen Zelten wohnen. Der Kontrast zur israelischen Siedlung Karmel lässt die Armut in Umm al-Kheir besonders krass hervortreten: Die Kinder wirken kränklich, es gibt weder feste Behausungen noch fließendes Wasser. Einen Steinwurf entfernt liegt die moderne jüdische Siedlung, in der vor allem Migranten aus den USA, Südafrika und Frankreich leben.
Karmel ist nicht nur an das Strom- und Wassernetz, sondern auch an das israelische Hochgeschwindigkeitsinternet angeschlossen. Für die Verkehrsanbindung sorgt das größte israelische Busunternehmen Egged. Im Sommer können sich die Bewohner von Karmel in ihren Swimmingpools abkühlen. Die Beduinen von Umm al-Kheir dagegen müssen ihren Wasserbedarf mit einer halben Badewanne pro Tag decken.
Genehmigungen für Maßnahmen, die ihr tägliches Leben erleichtern, sind nur schwer zu bekommen. Die Behörden sind an weit entfernten Orten, und um dorthin zu gelangen, braucht man zuweilen eine Reisegenehmigung. Doch die zu beantragen ist für die Palästinenser von Umm al-Kheir praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Dorfbewohner namens Eid erzählt, dass die für Reisegenehmigungen zuständigen Beamten nur Hebräisch sprechen, was er nicht verstehe. Außerdem sei das Büro nur sehr unregelmäßig geöffnet. Normalerweise bittet er israelische Freunde, die zuständige Zivilbehörde für ihn anzurufen, erzählt Eid in gebrochenem Englisch: „Aber sogar die haben große Mühe zu begreifen, wie das Genehmigungssystem funktioniert. Egal, was wir tun, am Ende des Tages stehen wir ohne Genehmigung da.“
Der größte Konfliktherd im südlichen Westjordanland bleibt jedoch das Wasser. Bei einer Fahrt durch die Landschaft sticht jedem Besucher die üppige Vegetation in den israelischen Siedlungen ins Auge. Aber hinter der nächsten staubigen Kurve liegt dann eines der palästinensischen Dörfer wie Susiya oder Umm al-Kheir, die ein völlig anderes Bild bieten. Wasser ist für die Palästinenser ersichtlich Mangelware. Denn das israelische Militär und die Zivilbehörde verweigern beharrlich den Bau von Wasserleitungen in Dörfer wie Susiya – während für die Siedlungen genügend Wasser zur Verfügung steht.
Viele Palästinenser in der C-Zone sind deshalb gezwungen, ihr Wasser in städtischen Zentren wie Yatta einzukaufen, wo der Liter fünfmal so viel kostet wie in Tel Aviv. Die Wasservorräte werden in großen Plastiktanks gelagert, die ein bevorzugtes Ziel für Sabotageakte darstellen. Oft werden sie von Siedlern im Schutze der Nacht, zuweilen aber auch am helllichten Tag zerstört.
Traditionell haben die Palästinenser im südlichen Westjordanland das Regenwasser immer in natürlichen Zisternen oder Höhlen gesammelt. Aber seitdem viele von ihrem Land vertrieben wurden, ist auch das vorbei. In Susiya hat die israelische Armee eine Anzahl von Natursteinhöhlen, die den Bewohnern als Zisternen dienten, einfach zubetoniert. In einer der Zisternen findet sich noch heute ein altes Autowrack, dass die Soldaten dort versenkt haben, um das Wasser für immer ungenießbar zu machen.
Im November 2011 erläuterte die israelische Journalistin Amira Hass in einer Rede vor der Gruppe Canadians for Justice and Peace in the Middle East in Vancouver, dass Israel im südlichen Westjordanland „unter den Augen der internationalen Gemeinschaft offen und unverhüllt ethnische Säuberungen“ praktiziere. Dabei handelt es sich zwar nicht um ethnischen Säuberungen im klassischen Sinne, aber die Vorenthaltung von Rechten, die für ein Leben in Würde unverzichtbar sind, und der fortlaufende Ausbau der Siedlungen zeigen auf jeden Fall, dass die israelische Regierung eine praktikable Zweistaatenlösung unmöglich machen will. Auch in dem jüngsten Bericht der EU über die Verhältnisse in Zone C wird die israelische Politik für die „erzwungene Abwanderung der einheimischen Bevölkerung“ verantwortlich gemacht. Der Bericht empfiehlt der Union, sich aktiver für Infrastrukturprojekte wie Straßen, Wasserversorgung, Schulen und Krankenhäuser einzusetzen, um „die Palästinenser zu unterstützen und ihnen das Bleiben zu ermöglichen“.
Die israelische Regierung verteidigt ihre Politik im Westjordanland regelmäßig mit dem Argument, sie müsse die Sicherheit des Staates und seiner Bürger gewährleisten. Aber wenn es Israel nur um die Sicherheit der israelischen Bürger gehen würde – und nicht etwa um eine dauerhafte Besatzung oder Annexion zumindest von Teilen des Westjordanlandes, – stellt sich die Frage, weshalb sich dann die israelischen Siedler so offen über die Gesetze hinwegsetzen dürfen. Und warum müssen dann die Palästinenser in Susiya fünfmal so viel für Wasser zahlen wie die Israelis in der benachbarten Siedlung? Wenn es nur um Sicherheit geht, warum wird den Beduinen in Umm al-Kheir nicht erlaubt, einfache Latrinen zu bauen?
Im Zeitalter der neuen Medien, die Informationen in Windeseile über die ganze Welt verbreiten, gerät die israelische Darstellung der Realitäten im Westjordanland zunehmend unter Druck. Wie viel Angst die israelischen Gesetzgeber vor dem freien Fluss von Informationen haben, zeigen deutlich die dem israelische Parlament seit November 2011 vorliegenden Gesetzentwürfe, die die Unterstützung für palästinensische Boykottkampagnen gegen Israel unter Strafe stellen und die ausländische Finanzierung von Menschenrechtsorganisationen wie B’tselem oder der Association of Civil Rights in Israel beschneiden. Das im Westjordanland installierte System ist auf Dauer völlig unhaltbar. Aber das ist auch der Grund, weshalb Organisationen, die den Zustand vor Ort dokumentieren, immer stärker ins Kreuzfeuer der israelischen Regierung geraten.
Als Israel im Sommer 2011 von den größten sozialen Protesten seiner Geschichte erschüttert wurde, waren die Zustände in den besetzten Gebieten allenfalls ein Randthema. Trotz der ständigen Klagen über die fehlende „soziale Gerechtigkeit“ waren weder die israelische Besatzung insgesamt noch die staatliche Politik gegenüber den von Israel verwalteten Palästinensern in der C-Zone für die Demonstranten ein Thema. Diese Wahrnehmungslücke der neuen sozialen Protestbewegung macht deutlich, weshalb die israelische Siedlungspolitik ohne nennenswerten Widerstand seitens der israelischen Gesellschaft fortgesetzt werden kann. Und sie erklärt auch, warum radikale Kräfte mittels Vereinnahmung staatlicher Institutionen – wie der für die C-Zone zuständigen Zivilbehörde – die gesamte Siedlungspolitik im Westjordanland bestimmen können.
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