Eva Menasse über die Grüne Linie zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten, über Hebron und das Dorf Walaja – und den Krieg der kommenden Generation. Eine Erzählung. (Spiegel 12/17)

Die österreichische Schriftstellerin Menasse, 46, lebt in Berlin. Für diese Kurzgeschichte recherchierte sie im vergangenen Jahr in Israel und den palästinensischen Gebieten, inspiriert von ihren amerikani- schen Kollegen Michael Chabon und Ayelet Waldman. Das Autoren- paar hatte Menasse und andere Autoren (darunter Dave Eggers, Colm Tóibín und Mario Vargas Llosa) gebeten, Essays und Kurzge- schichten über die besetzten Gebiete zu verfassen. Vor Ort half den Autoren die Menschenrechtsorganisation Breaking the Silence, eine Gruppe ehemaliger israelischer Armeeangehöriger, die seit Jahren die Besatzungspolitik der Regierung Benjamin Netanyahu kritisiert. Die deutsche Ausgabe der Textsammlung erscheint im Herbst unter dem Titel „Oliven und Asche“ im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Ich stelle mir Aya vor, ein Kind, acht Jahre alt, wie es zwischen seinen Geschwistern im Bett liegt und von einem malmenden Monster träumt. Es erwacht, als dieses Monster aus dem Traum her- überkommt und vor dem Fenster tobt. Frauengeschrei dringt in die Ohren, grelles Licht zwischen die zusammengekniffenen Lider. Von einem starken Arm wird Aya hochgerissen und fortgetragen, am Ge- ruch von Seife und Kaffee erkennt sie die Mutter. In rasendem Ga- lopp fliegt sie durch die Luft, hinaus aus dem Hellen in die Nacht, in der einzelne grelle Lichter strahlen wie böse, weiße Sonnen. Der Va- ter, der Onkel, die großen Brüder und Cousins liegen bäuchlings auf der Erde, ein Gestrüpp von Gewehrläufen auf sie gerichtet. Sie bewegen sich nicht, aber Aya weiß aus irgendeinem Grund, dass sie leben.

Der Mutterarm stellt sie auf den Boden, aber dann ist sie es, Aya, die die Mutter verfolgt, an ihren Kleidern zieht und sie wegreißen will von dem Soldaten, an den sich die Mutter flehend klammert. Der Soldat lacht, ein anderer befreit ihn. Er schüttelt die Mutter ab wie Ungeziefer. Da schiebt sich das Monster wie ein riesiger Skorpion mit aufgerichtetem Stachel heran. Es hackt von oben auf das Haus ein, in dem Aya bis vor wenigen Minuten zwischen ihren warmen Geschwistern geschlafen hat. Es klirrt, splittert und kracht, gnädiger weißer Staub steigt auf und verhüllt die Szene. Die Mutter schreit, der Vater und die Brüder liegen auf dem Boden, die Tante mit den schwarz geschminkten Augen steht am Rand und hält ihr iPhone hoch, während die Tränen laufen. Aber sie hat tapfer alles gefilmt, sie werden sich die Zerstörung ihres Hauses den Rest ihres Lebens an- schauen können.

Die Zerstörung des ersten Hauses. Andere haben noch mehr verlo- ren, erste und zweite und dritte Häuser, dann die Wellblechhütten, die sie selbst irgendwie zusammengebaut haben, weiß Gott womit, schließlich sogar die Zelte der internationalen Hilfsorganisationen. Aber das ist nicht hier, das ist im Jordantal, weit weg von der Grü- nen Linie, wo überhaupt niemand mehr zuschaut und wo sie machen können, was sie wollen. Aber hier wie dort kommen sie jedes Mal um drei Uhr früh.

Wir werden ein neues Haus bauen, wird Ayas Vater am nächsten Morgen zu den fremden Menschen mit den Kameras sagen und die Faust recken. Ayas kleine Schwester ist in den schwarzen Wasser- tank geklettert, der früher auf dem Dach stand und jetzt zerstört auf dem Schutt liegt. Sie steht darin, trommelt mit den Fäusten gegen das Plastik und kreischt vor Vergnügen. Drei von den Fremden halten mit steinernen Mienen ihre Handys zwischen sich und Ayas Schwester.

Aya wohnt in einem Dorf namens Walaja. Alt-Walaja, das erste Dorf, hat es auch einmal gegeben, es lag auf dem Hügel gegenüber. Aber 1948, zur Zeit der Katastrophe, musste das Dorf umziehen, mit Sack und Pack. Im Tal zwischen den Hügeln von Alt-Walaja und Wa- laja verläuft seither die Grüne Linie, über die irgendwo im fernen Ausland, wo andere Regeln gelten, seit Jahrzehnten hitzig gestritten wird. Aber deshalb wächst hier noch lange kein Halm in eine andere Richtung. Hier bedeutet sie gar nichts, die Grüne Linie, außer einem obligatorischen Strich auf allen Landkarten.

Den Umzug des Dorfes Walaja, damals, im Jahr 1948, darf man sich nicht als geordnete Angelegenheit vorstellen. Es war Krieg; viele Überle- bende flohen tief nach Jordanien hinein. Später errichteten die, die es wagten zurückzukehren, auf dem Hügel gegenüber das neue Walaja. Von dort aus sahen sie, wie Bulldozer kamen und das verlassene Dorf zu einem Haufen Steine zusammenschoben, wie man ihre Oliven- und Granatapfelhaine, ihre Mandel-, Aprikosen- und Zitronen- bäume in Besitz nahm. Aber es war ihnen noch genügend Land geblieben, auf ihrer Seite der Hügel.

19 Jahre später, im nächsten Krieg, überrannten die Blau-Weißen die unsichtbare Grüne Linie und besetzten das ganze Land. Die Leute von Walaja, die Rot-Grünen, schimpften über ihre Führer, nannten sie unfähig und korrupt, aber am Ende sind alle Bauern froh, wenn sie sich wieder ihren Feldern zuwenden können, ohne dabei erschos- sen zu werden.

Seit je errichten die Rot-Grünen ihre Dörfer, um die Hügel zu umar- men, nicht um auf ihnen zu reiten. Die Blau-Weißen dagegen hocken sich immer auf die Hügelkuppen, ihre Häuser sind wie Bienenwaben, in denen die Reihenhäuser nach einem starren Plan verschachtelt werden, schreibt der palästinensische Autor Raja Shehadeh. Dadurch verändert sich alles, die biblische Landschaft ist heute bekränzt mit Häubchen aus beigem Beton, dazwischen die herrischen Schneisen der Schnellstraßen.

Eine solche Bienenwabe prangt auch direkt über Walaja. Sie heißt Har Gilo. In Har Gilo wohnen keine schlechten Menschen, sondern bloß solche, die unter vielen anderen Privilegien jenes haben, sich keine Gedanken machen zu müssen. Sie sind keine von den Verrück- ten mit den wehenden Bärten, die sich wie ein scharf umgrenzter Fremdkörper mitten in die Altstadt von Hebron gesetzt haben, ihre Häuser und Schulen in Stacheldraht dick eingesponnen wie militante Raupen. Hier in der sauberen Siedlung mit dem glatt rasierten, scharf bewaffneten Sicherheitsmann am Eingang haben sie IT-Jobs und Kin- der und knuffige Geländewagen. Sie tragen keine Gebetsriemen. Sie sind jung, säkular und sparsam, verglichen mit Tel Aviv oder Jerusalem ist Har Gilo günstig. Die Luft ist noch besser als der Ausblick. Dass sie in einer Siedlung leben, wissen diese gut ausgebildeten jungen Leute nicht einmal so genau.

Denn dieses Land besteht aus zwei Ländern. Wie inkongruente Landkarten liegen sie übereinander, an genau derselben Stelle, und die Rot-Grünen, das muss man schon sagen, liegen seit fünf Jahr- zehnten unten, mit deutlich weniger Luft. Zwei Systeme gibt es, für alles: verschiedene Straßen, verschiedene Nummernschilder, ver- schiedene Farben der Personalausweise. Verschiedene Rechtspre- chungen. Verschiedene Grenzübergänge für ganz verschieden Privi- legierte: An den einen werden die mit den „richtigen“ Nummern- schildern durchgewinkt, fast so entspannt wie in Schengen-Europa, an den anderen stehen die Männer mit der falschen ID-Farbe in ei- nem meterlangen Pferch aus Eisenstangen, der Pferch bekränzt von Stacheldraht, damit sie nicht hinausklettern. In dieser erniedrigenden Lage, eingesperrt wie wilde Tiere, warten sie geduldig und ratlos wie Kafkas Landvermesser, ob sie diesmal zum Schloss gelangen werden. Doch selbst wenn es klappt, dann bedeutet ihr Schloss nichts weiter, als dass sie nach langer Warterei zu ihrer schlecht bezahlten Arbeits- stelle gelangen, in eine Bäckerei oder eine Restaurantküche, oder dass sie als Bauarbeiter mit eigenen Händen die Mauer oder neue Wabenhäuser auf jenem Land bauen, das einst ihnen gehörte.

Und sogar von den Dächern in diesem Land gibt es zwei Varianten: Auf schäbigen Flachdächern klumpen schwarze Wassertanks wie Blattläu- se, während die anderen schmucke rote Dachziegel haben, die an Eu- ropa erinnern. Wassertanks brauchen Letztere nicht, denn wie in an- deren zivilisierten Weltgegenden reicht in ihren Häusern der Wasser- druck aus. Schließlich sind auch die Begriffe verschieden, nicht nur die Sprachen: Wenn die Blau-Weißen im besetzten Gebiet bauen, nennt man es Siedlungen, und wenn es nicht einmal die eigene Regierung erlaubt hat, dann nennt man es Außenposten. Trotzdem schickt dieselbe Regierung umgehend Soldaten zum Schutz. Die Rot- Grünen dagegen leben altmodisch in Dörfern.

Es gibt nur eine einzige Gemeinsamkeit: Fast alles, was seit Beginn der Besatzung gebaut wurde, ist illegal, entweder nach internationa- lem oder nach blau-weißem Recht. Denn Besatzung ist normalerwei- se ein vorübergehender Zustand. In einem Provisorium werden per Definition keine Baugenehmigungen vergeben. Trotzdem brauchen Menschen Häuser. Also bauen sie sie. Die einen mit staatlichen Gel- dern, die anderen mit ihren Händen und ihren Nachbarn, aus allem, was sie finden können. Aber alle, allesamt sind sie illegal, seit 50 Jah- ren. Abgerissen werden vor allem die der Rot-Grünen. Phasenweise wöchentlich, täglich, mehrere pro Nacht. Ein abgerissenes Siedler- haus dagegen ist so selten, dass es Schlagzeilen macht. Und es regt blau-weiße Fanatiker möglicherweise zu einer neuen Folge ihrer Ak- tion „Preisschild“ an. Die Aktion „Preisschild“ ist eine Drohgebärde an die eigene Regierung und heißt: Reißt unsere Häuser, die der Rechtgläubigen, die der wahren Patrioten, nur ab. Ihr werdet dann schon sehen, was das kostet. Der Brandanschlag in Duma im Juli 2015 wird für eine solche Racheaktion gehalten: Im gleichen Morgen- grauen, in dem sonst die skorpionhaften Bulldozer kommen, flog ein Brandsatz in ein rot-grünes Haus, ein Ehepaar und sein 18 Monate al- tes Baby starben. Das vierjährige Kind hat überlebt und wird ein Le- ben brauchen, um von den Verletzungen zu genesen. Doch wahr- scheinlich würde nicht einmal ein zweites Leben dafür reichen.

Seit Jahrzehnten nimmt man ihnen systematisch ihre Felder, aus einem so farbenfrohen Bündel von Gründen.

Zurück zu den freundlichen jungen Familien von Har Gilo. Sie halten das hier keineswegs für eine Siedlung, sondern für einen Vorort von Jerusalem. Und Walaja, das wild gewachsene kleine Dorf halb unter, halb hinter ihnen, halten sie vermutlich für einen Slum, falls sie es je wahrgenommen haben. Überall diese Schutthaufen! Neben einem der frischen, der Staub noch strahlend weiß, spielen Aya und ihre Geschwister in der Sonne.

Bald soll es unten im Tal einen großen Nationalpark geben. Dazu müs- sen nur noch ein paar mehr Bewohner von Walaja enteignet werden. Seit Jahrzehnten nimmt man ihnen systematisch ihre Felder, aus ei- nem so farbenfrohen Bündel von Gründen, dass man die Kreativität der blau-weißen Juristen nur bestaunen kann: osmanische Gesetze aus dem 19. Jahrhundert, militärische Schießübungszonen, Felder zu lange nicht bestellt.

Außerdem: verschwundene, unklare oder für ungültig erklärte Grundbucheinträge, Sicherheitsaspekte, die man aus Geheimhal- tungsgründen nicht genauer darlegen kann, oder eben, fast sardo- nisch: ein Nationalpark. Was kann man dagegen haben? Alles, wenn man nur noch diesen einen Olivenhain hat.

Aber die jungen Familien aus Har Gilo freuen sich darauf! Bald wer- den sie mit Freunden aus der Hauptstadt in der herrlichen Natur picknicken. Während die Menschen aus Walaja auf halber Höhe des Hügels hinter einen meterhohen Zaun gesperrt sein werden und von dort, aus sicherer Entfernung, auf ihre ehemaligen Felder starren.

Ich stelle mir vor: In Har Gilo, Reihe zwei, in einer Drei-Schlafzim- mer-Wabe, lebt der 14-jährige Elad. Doch sein Lieblingsaufenthalt zurzeit ist Hebron, wo er Verwandtschaft hat. Ich stelle mir vor, dass das Elads Mutter nicht gefällt, obwohl es sich um ihren eigenen Bru- der und dessen Söhne handelt. Von den Heldentaten, die Elad mit seinen Cousins dort besteht, erzählt er ihr daher lieber nichts. Mütter verstehen so manches nicht, auch nicht, dass die Erfordernisse des Patriotismus direkt davon ab- hängen, wo man lebt. Im langweiligen Har Gilo hat man Zeit, Gameboy zu spielen, in Hebron muss man kämpfen, auch wenn man noch ein Junge ist.

Nach der Schule hängen die Jugendlichen von Hebron in der Nähe des Heiligtums ab, dort, wo die Touristenbusse ankommen, Juden aus aller Welt, zwitschernde asiatische Christen mit Schirmmützen in Pink, damit sie einander nicht verlieren (als ob das möglich wäre), oder ängstliche Deutsche mit grob geschnitzten Holzkreuzen, die ih- nen über den karierten Bäuchen baumeln. Die Busse der Feinde samt Gefolge aus Zentral-Blau-Weiß sind kleiner und unauffälliger, aber da die Protagonisten einander seit Jahren kennen, dauert es nur we- nige Minuten, bis die halbwüchsigen Jungs einen Kritikerbus identifi- ziert haben und das Spiel beginnt.

Wie alle Spiele hat auch dieses klare Regeln: Hindert sie, wo ihr könnt, vergällt ihnen ihren Stadtrundgang. Nur Berührungen sind verboten. Also breiten diese Teenager schweigend die Arme aus und spreizen die Finger, fast eine Willkommensgeste, bloß bedeutet sie das Gegen- teil. Als menschliche Hindernisse stellen sie sich vor die Reiseleiter jener kleinen Gruppen, die nicht kommen, weil sie an Abrahams Grab beten, sondern weil sie diese brachial geteilte Stadt zeigen wol- len, diesen nach Blut dürstenden Hexenkessel, auf den das blau-wei- ße Militär mit äußerster Anstrengung den Deckel hält.

Wasserkanister, Planen, Kartons, alter Stoff. Irgendwann lebt ihr da unten für immer in der Nacht. Sie kommen, weil in der Altstadt von Hebron viele Probleme dieses doppelten Landes auf die Spitze getrieben sind: religiöser Wahn, militärische Kompromisslosigkeit und die damit einhergehende Radikalisierung der unterdrückten rot-grünen Mehrheit. Doch solcher Menschenrechtstourismus passt den 800 wehenden Bärten nicht, die sich hier als religiöses Bollwerk verstehen. Und ihren Kindern passt es genauso wenig.

Die Siedlerjugendlichen bauen sich also vor dem massigen Reiseleiter auf, der sie in seinem früheren Leben als hier stationierter Soldat be- schützt hat. Der israelische Schriftsteller Amos Oz, der selbst als Kind Steine auf britische Soldaten geworfen, „British go home“ ge- brüllt hat und sich als „geheilten Fanatiker“ bezeichnet, schreibt: „In den Augen der Fanatiker ist jeder ein Verräter, der sich verändert.“

Ein solcher Veränderter ist auch dieser Aktivist, der ehemalige Sol- dat. Er ist dabei kein Pazifist geworden. Dennoch konnte er nicht mehr ertragen, was seine Armee, was sein Land Tag für Tag als Be- satzungsmacht tut. Und das zeigt er am Beispiel Hebron anderen in- teressierten Bürgern, jede Woche.

Deshalb versperren diese Jugendlichen dem Verräter, ihrem eigenen Soldaten, den Weg. Er muss im Zickzack um grinsende Kinder her- umgehen. Sobald er ein Foto oder einen Stadtplan hochhält, drängen sie heran, halten ihre Hände davor und machen das Anschauungsma- terial unsichtbar, indem sie selbst zu einem werden.

Nun werden auch die aktiven Soldaten aufmerksam, die überall in lauernden Grüppchen stehen. Sie gleiten unauffällig näher, wie auf Schienen. Der Reiseführer erhebt die Stimme („Sehen Sie hier die verschweißten Haustüren, die rot-grünen Bewohner dürfen ihre Häu- ser nur von hinten oder über das Dach verlassen“), weil er merkt, dass die Aufmerksamkeit von ihm weg ebbt. Die Jungen grinsen einander zu. Sie heben ihre Arme mit den gespreizten Fingern, wie Windmühlen, ein Armballett. Die Teilnehmer der Reisegruppe schütteln den Kopf. Ich stelle mir vor, dass es ein guter Tag für die Jungs wird, wenn einer dieser fremden Voyeure irgendwann ausrastet. Irgend so ein Heini aus Haifa, Netanja oder Brooklyn herrscht sie dann an, sie sollten sich wenigstens benehmen, und am Ende fasst er einen womöglich noch am Arm und drängt ihn zur Seite, aber auf den Kleinsten, einen Zehnjährigen, den Kameramann der Gruppe, ist Verlass, er hat mit dem Handy immer alles gefilmt. Und dann rufen sie die Polizei.

Vielleicht hatte Elad anfangs Angst mitzumachen. Doch das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass die Soldaten einen wegzie- hen. Einmal rief Elads Cousin laut: „Hältst du mich fest wie einen Araber?“ Das hat Elad sich gemerkt. „Ich bin kein dreckiger Ara- ber“, ruft er nun jedes Mal, „verhafte lieber die hier, diese linken Verräter.“

Wenn nichts los ist, keine Busse mit Aktivisten, dann schmeißen die Ju- gendlichen aus Hebron den Markt ab. Die Häuser der Altstadt sind horizontal geteilt, oben die, unten die anderen, Zutritt von der je- weils anderen Seite. Innentreppen zubetoniert. Mit ihren Überwa- chungskameras haben die Blau-Weißen von oben alles im Blick. Die Rot-Grünen haben unten in ihren engen Gassen immer noch verein- zelt Läden, und sie haben Gitter, Netze, Maschendraht darüberge- spannt, um sich vor Steinen und Müll von oben zu schützen. Das macht aber nichts. Geeignete Geschosse durchstoßen manchmal die Netze, große Steine bringen sie zumindest so zum Beben, dass sie sich unten ducken und die Hände über den Kopf halten. An einigen Stellen wird es unten langsam dunkel, dunkel für immer. Elad, der Tüftler, denkt viel darüber nach, welche Gegenstände am meisten Licht nehmen. Wasserkanister, auseinandergefaltete Kartons, Planen, alter Stoff. Quadratmeter um Quadratmeter. Irgendwann lebt ihr da unten für immer in der Nacht. Und dann könnt ihr nicht einmal mehr eure bunten Süßigkeiten sehen.

Bei den Spielen der Mädchen machen die Jungs natürlich nicht mit, das ist internationaler Standard. Aber sie gehen hin und schauen zu, am Samstag, wenn sie schulfrei haben, die anderen aber nicht. Dann stehen die kleinen Schwestern dieser großen Jungs vor der rot-grü- nen Mädchenschule und warten, bis die anderen Mädchen heraus- kommen. Und dann schubsen sie sie und schmeißen Steine, und ir- gendwelche Menschenrechtsspinner aus Europa, große bleiche oder lachsfarbene Erwachsene aus dem Norden, werfen sich ungelenk da- zwischen und versuchen, die kleinen Mädchen mit den Kopftüchern zu schützen. Und die Soldaten stehen daneben und schauen zu, denn sie haben einen klaren Auftrag in dieser unklaren, kranken Stadt: Sie müssen Gewalt gegen die 800 Blau-Weißen verhindern. Gewalt der paar Blau-Weißen gegen die 200 000 Rot-Grünen geht sie nichts an. Und wenn kleine Mädchen kleine Mädchen verprügeln, dann schon gar nicht. Da träumen die Soldaten von der nächsten Pausenzigarette und zucken die Schultern, jeden einzelnen verdammten Samstag- nachmittag, wenn die Schule der kleinen rot-grünen Mädchen zu Ende ist und die Jagd auf sie beginnt.

Ich frage mich, ob Kinder wie Aya, die mitten in der Nacht aus ihrem Bett geholt werden, weil das Militär kommt, um ihre Häuser plattzu- machen, diesen Moment je vergessen werden. Ob diese Kinder ein anderes Verhältnis zu einem im Schutt liegenden, zerfetzten Sofa ha- ben als ich, einfach, weil sie es schon oft gesehen haben.

Ob nur mir, die ich aus dem Frieden komme, ein zerstörtes Sofa so menschlich vorkommt, so peinlich intim. Doch während ich an die Zukunft denken möchte, marschiert die soldatengrüne Gegenwart einfach weiter. Sechs Jahre lang wurden in Walaja, direkt am südlichen Rand Jerusalems, keine Häuser abgerissen. Dann plötzlich drei in einer Nacht, das von Aya und zwei andere. Und nun haben zwanzig weitere den Abrissbefehl bekommen. Zwanzig Ayas. Die meisten Familien haben vier oder fünf Kinder. Zwanzig mal fünf. ■