Schwedens Entschluss, einen Palästinenserstaat anzuerkennen, ist kein Schaden.

Netanjahu vergibt dagegen eine Chance.

Mein guter Freund Jitzhak Herzog, Vorsitzender der israelischen Arbeitspartei und Oppositionschef, hatte Medienberichten zufolge kürzlich ein kritisches Gespräch mit dem schwedischen Premier Löfven wegen dessen Entschluss, einen palästinensischen Staat anerkennen zu wollen. Ich war viele Jahre Mitglied in Herzogs Partei, habe ihr als Abgeordneter in der Knesset und als Parlamentspräsident gedient. Zu meiner Bestürzung muss ich feststellen, dass Herzogs Positionen mir nicht länger erlauben, ihn zu unterstützen. Im Gegenteil, ich muss sie zurückweisen, da sie eine Art Freifahrtschein für die Besatzung sind. Herzog und andere behaupten im Brustton der Überzeugung, dass die Anerkennung eines palästinensischen Staates ein „unilateraler“ Schritt sei, der die Friedenschancen bedrohe. Ich glaube, dass ihre Ablehnung die eigentliche Bedrohung ist, weil sie dazu beiträgt, das ungerechte Besatzungssystem fortzusetzen.

Die Wahrheit muss gesagt werden. Es gibt unilaterale Elemente in den israelisch-palästinensischen Beziehungen, die meisten allerdings gehen auf das Konto Israels. Jede andere Beschreibung ist ein Zerrbild der Realität: Das palästinensische Volk lebt seit fast fünf Jahrzehnten unter israelischer Herrschaft, die ihm ohne jegliche „bilaterale“ Vereinbarung aufgedrückt wurde. Landenteignung, Siedlungsexpansion, Militärcheckpoints zerstückeln das palästinensische Gebiet und verhindern Reisefreiheit. Familien aus ihren Häusern zu vertreiben, zivile Proteste zu unterdrücken, Vorbeugehaft zu erlassen und nächtens mit Militärgewalt in Dörfer einzudringen, sind allesamt unilaterale Schritte, die der starke israelische Staat tagtäglich auf Kosten des ohnmächtigen palästinensischen Volkes unternimmt.

Ein Staat, zwei Nationen

Dieses Vorgehen ist Ausdruck der kolonialen Wirklichkeit, die sich in den besetzten Gebieten über die Jahre hinweg herausgebildet hat. Israel, das stolz darauf ist, die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ zu sein, existiert heute de facto als singulärer Staat für zwei Nationen – die eine hochgestellt, die andere degradiert. Es ist eine Demokratie, der es an gleichen Rechten für alle Bürger, Nationen und Gemeinschaften mangelt.

Eine internationale Anerkennung eines palästinensischen Staates nach dem mutigen Modell der Schweden (das bislang nur eine Ankündigung ist, d. Red.) richtet sich gegen diese Realität. Eine solche Anerkennung, einhergehend mit Unterstützung der Initiative von Mahmud Abbas in den Vereinten Nationen, wäre eine Einladung an Israelis wie an Palästinenser, die bisherige unilaterale Zurückstufung zu überwinden. Es wäre zugleich ein Aufruf an die gesamte internationale Gemeinschaft, repräsentiert durch ihre Institutionen, Partner einer künftigen Friedensvereinbarung zu sein.

Eine palästinensische Staatsdeklaration im Einklang mit internationalen Normen an der Seite Israels ist ein erster Schritt, Verhandlungen unter etwas besseren Bedingungen zu führen, die etwas weniger ungleich sind. Nur wenn wir die Spielregeln und Kräftebalance zwischen den Beteiligten verändern, werden wir in der Lage sein, uns mit dem argen Missverhältnis zwischen Israelis und Palästinensern auseinanderzusetzen – namentlich der Flüchtlingsfrage, Jerusalem, territoriale Ansprüche, Wirtschaft und Infrastruktur. Ohne eine solche Maßnahme werden Israelis und Palästinenser in einer Realität verharren, die sich durch Gewalt, Tod und Zerstörung auszeichnet. Die Gaza-Story ist längst nicht vorbei – sie hat kaum angefangen.

Schwächung der moderaten Kräfte

Die Koalitionsregierung von Benjamin Netanjahu setzt – teils unterstützt von der Arbeitspartei – alles daran, die moderaten palästinensischen Kräfte unter Führung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu schwächen. Das stärkt im Gegenzug die gewaltbereiten, extremistischen Kräfte. Man versteht, dass das die Logik der Rechten ist, aber warum stellt sich die Opposition dahinter, statt eine Alternative zu präsentieren?

Die politische Führung des rechten Lagers in Israel (zu dem ich die Arbeitspartei in gewisser Weise rechne, da die israelischen Politiker in ihrer Gesamtheit in den letzten Jahrzehnten nach rechts gedriftet sind) stellt gerne die palästinensische Führung als gewaltorientiert und nicht kompromissbereit hin, um behaupten zu können, dass es keinen Partner für einen Frieden gäbe. Wie einfach und wie zynisch! Netanjahu zieht eine Hamas vor, die stärker ist als Abbas, und zwar genau deswegen, weil dieser ein gleichwertiger Verhandlungspartner Israels in Rechten wie in Pflichten sein will. Abbas verlangt Anerkennung, Legitimität, kollektive Gerechtigkeit, einen Staat und einen gleichen Status wie Israel – bei weitem viel zu viel für Netanjahu.

Die schwedische Entscheidung und die Abstimmung im britischen Parlament zugunsten einer Anerkennung Palästinas sowie ähnliche Absichten weiterer Regierungen, von denen wir bald hören werden, bahnen den Weg zu einer besseren Zukunft für uns alle. Eine Zukunft, in der zwei Länder für zwei Völker frei und sicher koexistieren, wird die jetzige „Single-Staat-Realität“ mit ihrer ethnischen Segregation ablösen.

Statt sich dieser international mobilisierten Bewegung anzuschließen, wählen Mitglieder der Arbeitspartei lieber Netanjahus strategisch destruktiven Kurs. Das ist eine Schande. Als israelischer Bürger, der niemals den Glauben aufgegeben hat, dass Frieden möglich ist, bin ich der schwedischen Regierung ausgesprochen dankbar für ihren Vorstoß. Mögen viele Staaten ihrem Beispiel folgen.

 

Avraham Burg war Vorsitzender der Jewish Agency und der World Zionist Organisation. Von 1999 bis 2003 war er Präsident der Knesset, des israelischen Parlaments.

Artikel URL:

http://www.fr-online.de/meinung/nahost-eine-schande-fuer-israel,1472602,28878518.html

 

Frankfurter Rundschau, Mittwoch 29. Oktober 2014, 70. Jahrgang, Nr. 251

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