von Clemens Ronnefeld
veröffentlicht am 17. November 2014
Während der Abfassung dieses Artikels steht der Nahostkonflikt wieder
einmal an einem Scheidepunkt: Nach der mehrfachen Erstürmung des
Tempelbergs samt Eindringens in die Al Aksa-Moschee durch die
israelische Armee (IDF), dem Attentat auf den Rabbiner Jehuda Glick
durch ein Mitglied des islamischen Dschihad, Brandanschlägen auf
Synagogen und Moscheen, etlichen Toten auf palästinensischer Seite im
Westjordanland und im Gazastreifen durch IDF-Angehörige und Anschlägen
mit Autos und Messern auf jüdische Zivilisten in Jerusalem durch
Palästinenser droht die Gewalt im Nahost-Konflikt zu eskalieren. Das
rechte Parteibündnis in der Knesset arbeitet an einem Gesetzentwurf,
der Juden den ungehinderten Zugang zum Tempelberg erlauben soll. Hamas
und Fatah riefen dazu auf, dies mit allen Mitteln zu verhindern.
Die kommenden Wochen und Monate werden darüber entscheiden, ob dieser
Jahrhundertkonflikt unkontrolliert eskaliert – oder in einer
internationalen Kraftanstrengung noch einmal deeskaliert werden kann.
„Trotz Warnungen der Sicherheitskräfte einschließlich des
Geheimdienstes Shin Bet vor einem Flächenbrand, der auch das besetzte
Westjordanland erfassen könnte, wird wenig getan, um die Lage zu
beruhigen. Auch von internationalen Warnungen zeigt sich Israels
Regierung bislang unbeeindruckt“, so die Süddeutsche Zeitung,
nachfolgend SZ, am 10.11.2014.
Vorgeschichte: Scheitern der Friedensverhandlungen und Gazakrieg
Alain Gresh, Chefredakteur von „Le Monde Diplomatique“, benannte unter
der Überschrift „Scheitern als Prinzip. Wie Israel die
Friedensgespräche mit den Palästinensern zur Farce macht“ (LMD, Juni
2014), warum US-Außenminister John Kerry der israelischen Regierung
die Hauptverantwortung für das Nichtzustandekommen einer Lösung im
April 2014 zuschrieb: „Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA)
akzeptierte zahlreiche Einschränkungen der Rechte, die ein
unabhängiger Staat besitzt: die Entmilitarisierung des zukünftigen
palästinensischen Staats und die Präsenz israelischer Soldaten am
Jordan, die nach fünf Jahren durch US-Truppen abgelöst werden
sollten. Sie willigte zudem ein, dass die Siedlungen in Jerusalem
unter israelische Kontrolle gestellt werden, und akzeptierte einen
Austausch von Territorien, mit dem 80 Prozent der Siedlungen im
Westjordanland in den israelischen Staat integriert würden.
Schließlich sollte die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge der
Einwilligung Israels bedürfen. Kein anderer palästinensischer Führer
hat jemals so viele Zugeständnisse gemacht wie Mahmud Abbas. Und es
ist sehr unwahrscheinlich, dass sich in Zukunft jemand finden wird,
der diese harten Bedingungen akzeptiert“ (1).
Der UN-Menschenrechtsrat entschied am 23. Juli 2014 in einer
Sondersitzung, mögliche Kriegsverbrechen sowohl der palästinensischen
wie der israelischen Seite im Gaza-Israel-Krieg 2014 zu untersuchen.
Die israelische Regierung verweigerte im Herbst 2014 einer
UN-Kommission zur Untersuchung des Krieges sowohl die Einreise wie
auch die Zusammenarbeit (2).
Die Forderungen der Hamas u.a. nach Öffnung des Gazastreifens durch
den Bau eines Hafens und eines Flughafens konnten bisher in den
Verhandlungen mit Israel nicht umgesetzt werden, ein dauerhaftes
Waffenstillstandsabkommen ist derzeit in weiter Ferne.
Am 12. Oktober 2014 sagten Regierungen aus 50 Staaten auf einer
Geberkonferenz in Kairo mehr als vier Milliarden Euro für den Wiederaufbau
des Gazastreifens zu.
Zur israelischen Politik
Reuven Rivlin, seit Sommer 2014 Präsident Israels, machte sich auf
einer Konferenz im Herbst 2014 beim rechten Lager seines Landes
unbeliebt: „Es ist an der Zeit, ehrlich zuzugeben, dass die
israelische Gesellschaft krank ist, und diese Krankheit muss behandelt
werden“. Er kritisierte, „dass viele Araber in Israel einem Rassismus
ausgesetzt sind“. Jerusalem dürfe keine Stadt werden, in der „geheim
gebaut wird und Umzüge im Schutz der Nacht stattfinden“ (SZ,
4.11.2014). Was der israelische Präsident euphemistisch „Umzüge“
nennt, beschrieb die Israel-Korrespondentin der Frankfurter Rundschau,
Inge Günther, folgendermaßen:
„Es war stockfinstere Nacht, als eine Gruppe männlicher Siedler,
bepackt mit Kisten und flankiert von israelischen Grenzpolizisten und
vermummten Spezialeinheiten die beiden Wohnungen im ersten Stock in
Beschlag nahmen. ‚Wir wachten auf, völlig schockiert‘, berichtet die
vierzigjährige Um Mohammed Hayat, die mit ihrem Mann und zwei Kindern
im Parterre, lebt. ‚Ich glaube an Frieden. Aber das ist ein
Familienhaus. Da können doch Fremde nicht einfach erzwingen, hier
einzuziehen.‘ Bei ihrer nächtlichen Aktion reklamierten die Siedler
diese Woche auf einen Schlag gleich 23 Wohnungen in Silwan, einem
Ost-Jerusalemer Brennpunkt in Altstadtnähe, als ihren Besitz.
Brecheisen brauchten sie nicht. Sie hatten passende Schlüssel dabei,
nur in einem Fall brachen sie die Tür auf und warfen die Bewohner auf
die Straße. (…) Durch schleichende Übernahme haben sich über die
Jahre hinweg bereits rund 400 israelische Siedler in ihrer Mitte
niedergelassen, um sich herum Hochsicherheitszäune gezogen sowie
Kameras und Wachposten auf den Dächern postiert“ (FR, 4.10.2014).
Am 3. September 2014 zerstörten israelische Soldaten eine Joghurtfabrik
in Hebron mit rund 4000 Beschäftigten.
Im September 2014 schrieben 43 Reservisten der israelischen Geheimdienst-
Eliteeinheit 8200 einen offenen Brief an Ministerpräsident Netanyahu, dass sie aus
Gewissensgründen keine Informationen mehr sammeln werden, mit denen
Palästinenser zur Kollaboration mit der israelischen Armee gezwungen
werden.
Im „SPIEGEL“ vom 8. Oktober 2014 berichtete Julia Amalia
Heyer: „Jedes Jahr werden etwa 700 palästinensische Kinder von der
israelischen Armee festgenommen, 2013 waren es mehr als tausend. Die
meisten von ihnen werden beschuldigt, Steine geworfen zu haben, auf
Fahrzeuge, auf Soldaten, auf jüdische Siedler. Nach dem israelischen
Militärrecht, das für die Palästinenser im Westjordanland gilt, sind
Kinder ab zwölf Jahren strafmündig. Bis zu sechs Monate Haft beträgt
die Strafe für 12- oder 13-jährige, die einen Stein geworfen haben. Im
vergangenen Jahr veröffentlichte das Kinderhilfswerk Unicef einen
Bericht über minderjährige Palästinenser in Militärhaft. Darin werden
schwere Verstöße gegen die Kinderrechtskonvention festgestellt:
Misshandlungen scheinen ‚weitverbreitet, systematisch und durch die
Strafverfahren vor den Militärgerichten geradezu institutionalisiert‘.
Und zwar vom ‚Moment der Verhaftung über die eventuelle Anklage bis zu
einem Urteil‘. Die in dem Bericht aufgelisteten Misshandlungen reichen
von abschnürenden Fesseln über Isolationshaft bis hin zur Androhung
physischer oder in seltenen Fällen sogar sexueller Gewalt“.
Mitte Oktober 2014 riefen 363 namhafte israelische Persönlichkeiten,
darunter ehemalige Diplomaten und Minister in einem Brief das
britische Parlament auf, für eine Anerkennung des Staates Palästina zu
stimmen – vergeblich. Mehr Gehör fanden sie in Schweden, das als
erstes EU-Land überhaupt den Palästinenserstaat im Herbst 2014
anerkannte.
„In einer der größten Protestaktionen israelischer Prominenter hat
eine Gruppe von 106 ehemaligen IDF-Generälen, Mossad-Agenten und
Polizei-Kommissaren einen Brief an Premierminister Netanyahu
unterschrieben, in dem der Regierungschef aufgefordert wird, einen
‚diplomatischen Prozess‘ zu lancieren, der auf einem regionalen Rahmen
für einen Frieden mit den Palästinensern basieren müsse“, berichtete
die Plattform „Tachles“ (3).
Zur palästinensischen Politik
Präsident Mahmud Abbas hofft, mit dem Rückenwind europäischer Staaten,
die wie Schweden Palästina anerkennen, im UN-Sicherheitsrat einen
Resolutionsentwurf durch zu bekommen, der Israel eine Frist bezüglich
einer Zweistaatenregelung setzt. Israel soll sich „bis spätestens 2016
aus den 1967 eroberten Gebieten zurückziehen. Sieben Mitglieder im
UN-Sicherheitsrat unterstützen nach Angaben von PLO-Führungsmitglied
Nabil Shaat diese Initiative. Die USA haben aber ein Veto angekündigt“
(FR, 14.10.2014).
Seit der Unterzeichnung des Pariser Protokolls 1994, das die
Wirtschafts- und Finanzteile der Oslo-Verträge regelt, kontrolliert
Israel die Wirtschaft der Palästinenser/innen, „die 70% der Waren aus
Israel importieren und mehr als 85% ihrer Produkte nach Israel
ausführen“ (4). Zölle, die eigentlich der PA zustehen, werden immer
wieder einbehalten. In jüngster Zeit werden in den palästinensischen
Gebieten verstärkt Waren aus Israel boykottiert.
Nach dem israelisch-palästinensischen Sicherheitsabkommen von 1993
dürfen palästinensische Polizisten im Westjordanland gegen Angriffe
von Siedlern nicht vorgehen und sind dazu verpflichtet, beim Aufspüren
und der Verhaftung palästinensischer Aktivisten aus den Reihen von
Hamas, Islamischem Dschihad oder der Volksfront zur Befreiung
Palästinas mit der Regierung Israels zu kooperieren. Da die Regierung
von Präsident Abbas von Zahlungen aus dem Westen abhängig ist, hat sie
trotz erheblichen Drucks seitens der palästinensischen Gesellschaft
und Ausbleibens der eigenen Staatlichkeit die Oslo-Verträge nicht
gekündigt. Die mögliche Mitgliedschaft im Internationalen
Strafgerichtshofs in Den Haag wurde bisher nicht unterzeichnet,
wodurch mutmaßliche israelische Kriegsverbrechen im jüngsten Gazakrieg
untersucht werden könnten. Helga Baumgarten schreibt, dass „ein Brief
der Staatsanwaltschaft in Den Haag (zeigt), dass die PA nicht bereit
war, eine in Den Haag vorliegende Klage aus Gaza als offizielle
palästinensische Klage zu deklarieren und damit den juristischen
Prozess in Gang zu setzen“ (5).
Unter großem Druck steht die derzeitige aus Technokraten
zusammengesetzte Einheitsregierung aus Hamas und Fatah auch wegen der
ausstehenden Gehälter für Angestellte der PA im Gazastreifen, die seit
2006/2007 die ehemaligen Angestellten der Fatah ersetzt haben.
Die internationale Boykott, Deinvestitions- und Sanktionsbewegung
(BDS) wird von vielen Menschen in der Westbank wie im Gazastreifen als
Hoffnungszeichen gesehen, mit dieser Form des gewaltfreien Widerstands
u.a. durch den bewussten Kaufverzicht von Waren aus den besetzten
Gebieten Druck auf die israelische Regierung auszuüben.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die aktuellen Spannungen in einer
neuen Intifada (arab.: Abschütteln, gemeint ist die israelische
Besatzung) blutig entladen, ist derzeit groß. Der inhaftierte
Fatah-Aktivist Marwan Barghouti rief aus dem Gefängnis heraus die
palästinensische Führung dazu auf, den bewaffneten Widerstand zu
unterstützen.
Internationale Initiativen
Nach Auffassung der hohen Beauftragten für Außen- und
Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Federica Mogherini, macht
der Nahe Osten „die womöglich schwerste Zeit seiner Geschichte“ (SZ,
4.11.2014) durch. Ihre erste Reise in ein Nicht-EU-Land führte sie im
November 2014 nach Israel und Palästina. Daran „dass sie die
Etablierung eines Palästinenserstaates für nicht nur wünschenswert,
sondern als ein ‚Ziel‘ erachtet, lässt sie keinen Zweifel“ (SZ,
4.11.2014). Die Gründung des Staates Palästina nannte sie „den
einzigen Weg für Israel, um Sicherheit zu erlangen“ (SZ, 10.11.2014).
Die Botschafter von Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien
und der stellvertretende Botschafter von Deutschland übergaben dem
Nationalen israelischen Sicherheitsberater Yossi Cohen im September
2014 einen Brief, in dem sie gegen die Entscheidung protestierten,
rund vier Millionen Quadratmeter palästinensischen Landes bei Gush
Etzion – südlich von Jerusalem – als israelisches Staatsland
auszugeben (6).
Beim Nahost-Besuch des deutschen Außenministers Frank-Walter
Steinmeier Mitte November 2014 belehrte der israelische Außenminister
Avigdor Liebermann seinen deutschen Amtskollegen „bereits vor den
Kameras, dass es sich bei Neubauten im arabischen Ostjerusalem nicht
um Siedlungen, sondern um ‚jüdische Wohnviertel‘ handele und er sich
daher jede ‚Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten‘ verbitte“
(SZ, 17.11.2014).
„Fäkal-Diplomatie. Die israelisch-amerikanischen Beziehungen haben
einen neuen Tiefpunkt erreicht“, titelte die Süddeutsche Zeitung am
30. Oktober 2014 nach heftigen gegenseitigen Beleidigungen zwischen
Israelis und US-Amerikanern. Beim einem Krisengipfel in Amman im
November 2014 hatte Benjamin Netanyahu US-Außenminister John Kerry
„das Versprechen abgeben müssen, dass sich am Status quo auf dem
Tempelberg nichts ändern werde“ (SZ, 17.11.2014).
Der ehemalige israelische Gemeindienstchef Jaakov Peri sprach sich
angesichts der wachsenden Eskalation dafür aus, „eine
Regionalkonferenz unter anderem mit Jordanien, Ägypten und
Saudi-Arabien einzuberufen“ (FR, 13.11.2014). Es ist zu hoffen, dass
seine Worte möglichst bald auf fruchtbaren Boden fallen.
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(1) www.school-scout.de/extract/59245/1-Vorschau_als_PDF.pdf
(3) tachles.ch/news/106-ex-generaele-und-fruehere-geheimdienstler-tu-was-fuer-den-frieden
(4) Olivier Pironet, Zone, Lager und Gefängnis. Im Westjordanland dient die palästinensische Polizei als ausführendes Organ der Besatzungspolitik, in: Le Monde Diplomatique, Oktober 2014, S. 12f.
(5) Helga Baumgarten, Das „System Oslo“ und der Krieg gegen Gaza, in: INAMO 79, Herbst 2014, S. 34-38.
(6) www.haaretz.com/news/diplomacy-defense/1.614959
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Hinweis:
Zahlreiche deutsche Nahostexpertinnen und -experten
haben den nachfolgenden offenen Brief an die Bundesregierung
unterschrieben:
Dauerhaften Waffenstillstand erzielen, Blockade beenden –
Entwicklungsperspektiven für Gaza, Westjordanland und Ostjerusalem schaffen
sites.google.com/site/nahostexpertengaza/
Mitunterzeichner/innen sind willkommen.
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Clemens Ronnefeldt
Referent für Friedensfragen beim deutschen
Zweig des internationalen Versöhnungsbundes
A.-v.-Humboldt-Weg 8a
85354 Freising
Tel.: 08161-547015
Fax: 08161-547016
C.Ronnefeldt@t-online.de
www.versoehnungsbund.de
Spendenkonto für die Arbeit des
Versöhnungsbund-Friedensreferates:
Kontoinhaber: Versöhnungsbund e.V.
Konto 400 90 672
Sparkasse Minden-Lübbecke
BLZ 490 501 01
Stichwort: Friedensreferat/C. Ronnefeldt
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