46 Jahre unter israelischer Besatzung

In diesen Tagen jährt sich der Sechs-Tage-Krieg zum 46 Mal. Vom 5. bis 10. Juni 1967 schaffte es die israelische Armee in nur sechs Tagen die vereinigten arabischen Armeen (Syrien, Jordanien und Ägypten) vernichtend zu schlagen. Die Araber bezeichnen diese für sie fatale Niederlage mit „Naksa“ (Rückschlag, Schlappe oder Dämpfer.) Seit dieser Zeit hält Israel den Gazastreifen, das Westjordanland und Teile der Golanhöhen (Syrien) besetzt.
Damit die geneigte Leserschaft sich selbst ein aktuelles Bilddavon machen kann was es im Mai 2013 für die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland konkret heißt unter israelischen Besatzungsbedingungen zu leben lasse ich heute Helga Merkelbach zu Wort kommen.Sie berichtet von einem Ort der etwa 50 km von meinem derzeitigen Aufenthaltsort Qubeibaeh entfernt ist. Frau Merkelbach ist eine Freiwillige bei EAPPI, einem Programm des Weltkirchenrates. Sie beobachten die Lage in Palästina und melden Verstöße gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht. Mehr Information zum EAPPI-Programm
www.paxchristi.de/nahost.infos.2/nahost.freiwillige.2/index.html

Jinsafut – Ein Dorf im Wege
Die Autowerkstatt im Dorf Jinsafut ist schon zerstört, sie wurde am 1. Mai von Bulldozern platt gemacht. Ich kann nur die Trümmer sehen, ein Wert von 65000 NIS, etwa 14 000 €. Die Einrichtung, Werkzeuge, Maschinen wurden in die nächste Polizeistation in der israelischen Siedlung Qadumin verbracht und der Besitzer erhielt eine Rechnung über 15000 NIS für den Abtransport, bei Nichtzahlung droht Gefängnis.

Die Autowerkstatt
Wir treffen den Bürgermeister Aied Mohamed Aied, einen ruhigen, kultivierten und verantwortungsbewussten Menschen, Vater einer Tochter und von vier Söhnen, die alle gute Bildung und Auslandsaufenthalte hinter sich haben, eifrig auf Stellensuche sind oder Stipendien für weitere Ausbildung suchen. Sie planen ihr Leben sorgfältig und springen nicht voreilig in Ehe und Familienleben ohne Absicherung.
Aied überfällt uns nicht mit der geballten Ladung von Problemen seines Heimatortes, wir plaudern eher über dies und das. Er bringt die eine oder andere Angelegenheit vor, ohne Emotionen, hält sich an die reinen Fakten und versorgt uns bei jedem Punkt mit schriftlichen Belegen, in Kopie für uns: Berichte für die palästinensische Autonomiebehörde, die sie an die israelischen Behörden weiterleitet. Nach einer Stunde haben wir eine Liste von Problemen gesammelt:
– 3 Werkstätten (Autoreparatur, Marmor, Reifen) wurden am 1.5.2013 und kurz danach zerstört.
– Olivenbäume wurden abgeholzt um Elektromasten für eine durchgehende Hochspannungsleitung von Israel über Qalqilya bis Nablus aufzustellen, Stromversorgung für die israelischen Siedlungen, nicht die palästinensischen Dörfer. Das palästinensische Land um die Masten herum wurde ohne Information oder gar Kompensation schlicht in Anspruch genommen.
    
Hochspannungsmast im Olivenfeld  und  2 Tage später
– 6 Häuser haben die schriftliche Ankündigung, dass sie zerstört werden. Der Dorfkern ist B-Zone. Diese Häuser liegen in der C-Zone. Wir fotografieren die Häuser – nachfolgende EAPPI-Teams werden möglicherweise nur noch die Trümmer besichtigen und sich nicht vorstellen können wie sie vorher aussahen.

Häuser mit Abrissorder
– Eine israelische Fabrik für eingelegte Oliven und anderes Gemüse, Motola, lässt ihre Abwasser direkt in die Natur fließen. Dort stehen sogenannte römische Olivenbäume auf Feldern der Bauern von Jinsafut. Es sind uralte Olivenbäume, die durch die ätzenden Abwasser absterben. Die Firma ist im Verlauf des Abzugs aller israelischer Siedlungen aus Gaza nicht nach Israel gegangen sondern in die besetzte Westbank umgezogen.

Israelische Konservenfabrik Motola
Nur auf unsere Nachfrage hin erzählt Aied auch von nächtlichen „Besuchen“ des israelischen Militärs im Dorf, Verhaftungen, von gelegentlichen „Besuchen“ israelischer Siedlern, die Bewohner beleidigen oder auch mal ein Feuer legen.
Wie geht der Bürgermeister Aied mit all dem um? Was tun die Dorfbewohner? Während wir uns unterhalten und einen Tee schlürfen, kommt ein Mann einfach so in sein Büro herein, Aied nickt ihm nur zu und er erklärt uns, dass sein Haus, wie die meisten Häuser im Dorf, auf B-Gebiet steht, nur eine Ecke von etwa einem halben Meter befindet sich auf C-Gebiet. Daher wird es zerstört werden. Das Dokument darüber wurde ihm auf einen Stein vor seinem Haus gelegt und gilt damit als zugestellt.
Ecke am Haus im falschen Gebiet, oben links vom schwarzen Balken
Ein anderer Mann kommt herein und klagt darüber, dass sein Land dicht an einer israelischen Siedlung liegt. Das betrachten die israelischen Siedler als Bedrohung. Die israelische Armee hat sein Land kurzerhand zur Militärzone erklärt und erlaubt dem Mann nur einmal im Jahr zur Olivenernte für einen Tag in Begleitung von Soldaten den Zugang zu seinem Feld. Und im vorigen Jahr haben Siedler 60 seiner Olivenbäume abgehackt. Vom Dach des Hauses aus können wir sein Land sehen.
Aied spricht nicht für die Bewohner von Jinsafut. Er lässt sie ihre eigenen Angelegenheiten uns gegenüber selbst vortragen. Er hört ihnen gut zu und handelt. Er ermutigt keinen zu Demonstrationen oder großem Protest, zu keinem Racheakt, zu keiner Aggression. Er nimmt einen Rechtsanwalt und geht vor Gericht. So zog er auch vor Gericht, als die nahe gelegene Siedlung Immanuel begann ein Haus in einem Gebiet zu errichten, das nachweislich palästinensisches Land war. Es gibt auch nach Jahren noch keine Klärung durch das Gericht, aber die Siedler bauten nicht weiter an diesem Gebäude.
Im Internet lässt sich bei Wikipedia nachlesen, dass Jinsafut schon Ende des 16. Jahrhunderts unter osmanischer Herrschaft erwähnt wird. Nach dem Krieg 1967 flohen viele Bewohner nach Jordanien, aber in den letzten zehn Jahren hat die Bevölkerungszahl wieder zugenommen. Die Menschen lebten schon immer von Landwirtschaft, aber weil sie durch israelische Siedlungen zunehmend von ihrem Land verdrängt wurden, arbeiteten viele in Israel. Nun fehlt es durch den befestigten Ausbau der Grenze an Befreiungsfreiheit und daher der Möglichkeit, ihre landwirtschaftlichen Produkte zu vermarkten. Arbeit in Israel hängt ab von Genehmigungen. Wikipedia spricht von 92 % Arbeitslosigkeit im Ort.

hier eine Siedlung südlich von Hebron

Auf dem Dach des Hauses von Aied stehend sehen wir ringsum Hügel auf denen sich israelische Siedlungen befinden, im Süden ist es Immanuel. Im Norden schneidet die Hauptverkehrsstraße von Israel nach Nablus, die 55, durch die Landschaft. Israelis wie Palästinenser fahren auf der Straße, aber durch spontan
eingerichtete Straßenkontrollen können Palästinenser jederzeit in ihrer Bewegungsfreiheit behindert werden. Die Autokennzeichen für Palästinenser (weiß-grün) und Israelis (gelb) sortieren vor, wer weiter fahren darf und wer nicht. So ist Jinsafut rundum kontrollierbar und wird nach Bau des Grenzzauns oder einer Mauer eingeschlossen sein und die Bauern noch mehr Schwierigkeiten haben, auf das eigene Land zu kommen.
Wir treffen den Besitzer der Autowerkstatt, die am 1. Mai zerstört wurde. Er baute sie 2008, nahe an der Straße Nummer 55 und viele Siedler kamen um ihr Auto billig reparieren zu lassen. 2010 bekam er den Bescheid über die anstehende Zerstörung. Er bezahlte einen Rechtsanwalt, stellte alle nötigen Papiere zusammen und wartete noch auf den Gerichtsbeschluss, als am 28. April ein Vertreter der israelischen Armee zu ihm kam und behauptete, er habe den Prozess verloren, die Werkstatt werde in drei Tagen abgerissen. Der Besitzer erreichte seinen Anwalt nicht, die Behörden in Qalqilya bestätigten die schlechte Nachricht. Die Bulldozer kamen und verrichteten ihre Arbeit. Dann fand er heraus, dass sein Gerichtsprozess noch gar nicht stattgefunden hatte und die endgültige Zerstörung illegalerweise vordatiert wurde.
Ich frage mich, wie Aied, wie der Werkstattbesitzer, wie alle im Dorf so ruhig bleiben können und sich weiter auf Gerichtsweg begeben anstatt vor Wut zu kochen. Im Wohnzimmer hängt ein großes Bild von Aieds Vater und seinem Großvater, der 1990 von der israelischen Armee getötet wurde. Während Aied und seine Söhne sich mit uns unterhalten, uns mit Kaffee und Orangensaft bewirten, reden sie über Heiraten und unsere Herkunftsländer. Sie bringen uns Tee aus lokalen Kräutern zum Genießen ans Auto für unseren Weg die Schäden zu besichtigen.
Disclaimer: Ich bin vom 15.4. bis 15.7.2013 als Freiwillige im Rahmen von EAPPI (Ecumenical Accompaniment Programme Palestine and Israel) für den Weltkirchenrat im Auftrag des Berliner Missionswerks in Palästina und Israel tätig.
Dieser Bericht gibt nur meine persönlichen Ansichten und Beobachtungen wieder, die nicht unbedingt die des Weltkirchenrats oder des Berliner Missionswerks sind. Wer diese Informationen verbreiten will, setze sich bitte in Verbindung mit dem Berliner Missionswerk und bringe den offiziellen Standpunkt in Erfahrung vor jedweder Veröffentlichung.
Kontakt: Berliner Missionswerk, EAPPI, Jens Nieper, Georgenkirchstr. 69-70, 10249 Berlin, J.Nieper@bmw.ekbo.de

 

Über Marius S. 405 Artikel
Seit dem Frühjahr 2012 habe ich die Möglichkeit, mir durch längere Aufenthalte im Westjordanland/Palästina, ein eigenes Bild von der aktuellen Situation im israelisch/palästinensischen Konflikt zu machen. Ich habe in dieser Zeit unter anderem aktiv im international bekannten Friedensprojekt "Tent of Nations" in der Nähe von Bethlehem (2012) und in einem Heim für alte und behinderte Frauen in der Nähe von Ramallah (2013) gearbeitet. Darüber hinaus habe ich seit dem verschiedene Gruppen bei Begegnungsreisen in Israel, Palästina und im Herbst 2015 auch in Jordanien begleitet. In vielen Kontakten mit palästinensischen und israelischen Menschen hatte ich die Möglichkeit, deren Gefühle und Einschätzungen zum Leben und zum Konflikt zu erfahren. Durch diese Erlebnisse und Erfahrungen vor Ort bin ich motiviert worden, mich auch hier in Deutschland für eine Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinenser einzusetzen. Vor diesem Hintergrund habe ich Kontakt mit der Nahost-Kommission von pax christi aufgenommen und bin seit 2013 dort Mitglied.

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