50 Jahre Leben unter Besatzung: Was nehme ich im Alltag wahr?!

Ich hatte mir ja vor meiner Reise vorgenommen, in den Tagen meines Aufenthaltes hier, mit „offenen Augen“ durch die Straßen zu gehen und dabei zu erspüren, wie es den Menschen denn so geht im Alltag, wie sie leben, was sie tun. Neben meinen größeren Tagesberichten, in denen ich immer mal wieder auf Besonderheiten und Erkenntnisse eingegangen bin, möchte ich vor diesem Hintergrund in diesem Tagesblog einige weitere Wahrnehmungen kurz schildern.

Sicherlich muss der/die Leser/in berücksichtigen, das dies „Momentaufnahmen“ von mir sind, die ich vor allem in dieser sehr christlich geprägten Region um Bethlehem/Beit Jala gemacht habe. Möglicherweise stellt sich einiges, in anderen -eher muslimisch geprägten Regionen – zum Beispiel im Norden bei Jenin oder im Süden bei Hebron etwas anders.

auf der Hebronstraße in Bethlehem mittags um 13 Uhr

In den 5 Jahren in denen ich immer mal wieder für einige Wochen hier sein darf, habe ich das Gefühl, dass der Auto-Verkehr in den palästinensischen Städten immer mehr zu nimmt, ja selbst für mich, der oft zu Fuß unterwegs ist, fast unerträglich wird. An normalen Werktagen gibt es zum Beispiel hier in den Innenstädten von Bethlehem und Beit Jala fast kein Durchkommen mehr. Die Luft ist entsprechend „Abgasgeschwängert“ Wie man mir sagt, gibt hier keinen Plan, keine Überlegungen für eine Verbesserung, gar eine Veränderung dieser Situation. Keiner denkt hier Beispielsweise an den Ausbau des ÖPNV. Ja auch die vielen Service-Taxis (Kleinbusse) tragen auch zum wachsenden Verkehrschaos bei. Wie sagte Daoud Nassar zu mir: Vieles hat die Besatzungsmacht zu verantworten, aber auch wir haben selbst eine Verantwortung, die wir aber oft nicht war nehmen.

sehr viele dieser Neubauten (hier in Ramallah) stehen leer

Es fällt auf, dass hier massiv gebaut wird. Ebenso fällt aber auch auf, dass Hunderte (vielleicht Tausende?) der Neubauten leer stehen, oder in ihnen nur wenige Wohnungen bezogen sind. Ob hier spekuliert wird, mir entzieht sich der Sinn dieses „Baubooms“. Wenn man die Menschen hier dazu befragt, kriegt man keine Antwort oder eben nur die Erkenntnis, dass sich die normalen Menschen eben die teure Miete oder den teuren Verkaufspreis der Wohnungen nicht leisten können.

gerade im christlichen Beit Jala gibt es viele solcher „Prachtbauten“

In Deutschland ist in diesen Tagen (mal wieder) ein „Armuts-und Reichtums Bericht“ erschienen. Außer der Erkenntnis, dass bei uns, die Schere zwischen Armen und (sehr) Reichen immer weiter auseinander geht, sind seit dem ersten Bericht im Jahre 2001 keine wirklichen Konsequenzen getroffen worden (Steuern auf Börsengewinne etc)
Auch hier in Palästina habe ich das Gefühl, dass es neben Armen (und sehr Armen) Menschen auch viele Reiche (ja auch sehr Reiche) gibt .
Man sieht es an den unglaublich großen (und neuen Autos) aber eben auch an prächtigen Villen mit großen Grundstücken. Es werden großartige Hochzeiten gefeiert und die Hochzeitsreise des jungen Paares führt selbstverständlich mehrere Wochen nach Griechenland oder Florida. Man sieht die vielen Goldgeschäfte, in deren Verkaufsräumen immer reger Betrieb ist. Gerade die vielen Christen in Beit Jala gehören sicherlich zu der reichen Mittel- und Oberschicht in Palästina.
Ich frage mich, womit sind diese Menschen reich geworden. Vielen haben große Grundstücke, andere haben ihre Grundstücke (oft auch unter dem Druck der Israelis: „wenn du nicht verkaufst dann wird dein Land enteignet“) verkauft. Wiederum andere sind mit bestimmten Geschäften reich geworden. So habe ich immer den prächtigen Palast vor Augen, den der Besitzer einer Fertig-Beton-Fabrik am Rande des großen Flüchtlingslager „Deheishe“ bei Bethlehem sich errichtet hat. Hier in Bethlehem gibt es auch (wie ich hörte) drei großen Familien (Clans) die sich das Geschäft (Hotels, Restaurants, Souvenirs) mit den Touristen „aufteilen“.

eine neue Geschäftsidee in Beit Jala: ein Feinkostladen mit Baguette und Körnerbrote

Immer weder gibt es aber auch neue Geschäftsideen in die innovative Menschen investieren. So sah ich in Beit Jala einen neuen „Feinkostladen“, der nicht nur Wurst und Käse (aus aller Welt) anbot, auch seine Brotabteilung erstaunte mich: hier lagen neben Körnerbroten auch knusprige Baguettes. Mit diesen neuen Geschäftsideen ist es aber wie auch bei uns: sie müssen vom Kunden, (und im konkreten Fall zielt der Besitzer sicherlich auch auf ausländische Kunden, die hier vermehrt in Beit Jala/Bethlehem wohnen) „angenommen“ werden.

 

Ein Palästinenser der in Deutschland lebt und hier zu Besuch ist erzählte mir: Ich traf einen etwa 25 jährigen Palästinenser, der hockte am Straßenrand in Bethlehem. Ich fragte ihn was er tue? Er sagte, ich warte auf bessere Zeiten. Ich sagte, sei doch froh, dass du in deiner Heimat leben kannst, ich muss in der Diaspora leben. Er erwiderte: Was ist das, Heimat, dass Gefühl für Heimat habe ich längst verloren.

sie liegen überall am Straßenrand in Palästina:
große Betonblöcke mit denen schnell die ganze Straße blockiert werden kann

Wenn man in der Stadt lebt, kriegt man oft nichts mit. Man meidet es in ein anderes Gebiet zu fahren. Man fährt nicht einfach mal die 80 km von Bethlehem nach Nablus. Man meidet die C-Gebiete. Immer wieder gibt es dort Straßensperren, man weiß nie ob man zurück fahren kann. Wir leben irgendwie in kleinen „Homelands“.


Tageszitat aus „Recht ströme wie Wasser“

Die Zukunft des jüdischen Volkes ist an die Erhaltung und das Gedeihen Palästinas innerhalb der jüdischen Welt gebunden. Im Lichte dieser Erkenntnis ist es die Pflicht progressiver Juden und Christen, auf eine jüdisch-christlich-palästinensische Solidarität hinzuarbeiten.

Von: Marc Ellis ( ein US-amerikanischer jüdischer Befreiungstheologe und Friedensaktivist)

Über Marius S. 405 Artikel
Seit dem Frühjahr 2012 habe ich die Möglichkeit, mir durch längere Aufenthalte im Westjordanland/Palästina, ein eigenes Bild von der aktuellen Situation im israelisch/palästinensischen Konflikt zu machen. Ich habe in dieser Zeit unter anderem aktiv im international bekannten Friedensprojekt "Tent of Nations" in der Nähe von Bethlehem (2012) und in einem Heim für alte und behinderte Frauen in der Nähe von Ramallah (2013) gearbeitet. Darüber hinaus habe ich seit dem verschiedene Gruppen bei Begegnungsreisen in Israel, Palästina und im Herbst 2015 auch in Jordanien begleitet. In vielen Kontakten mit palästinensischen und israelischen Menschen hatte ich die Möglichkeit, deren Gefühle und Einschätzungen zum Leben und zum Konflikt zu erfahren. Durch diese Erlebnisse und Erfahrungen vor Ort bin ich motiviert worden, mich auch hier in Deutschland für eine Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinenser einzusetzen. Vor diesem Hintergrund habe ich Kontakt mit der Nahost-Kommission von pax christi aufgenommen und bin seit 2013 dort Mitglied.

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